USA: Wie ein Tweet die Leistungsgesellschaft enttarnt (2024)

Manchmalsagt ein Tweet mehr als tausend Studien. So wie der von Nina Strohminger, Dozentin für Recht und Ethik an der Wharton School of Business. Sie fragte ihre Studenten und Studentinnen, was normale amerikanische Beschäftigte im Jahr verdienen. DieAntworten haben nicht nur sie schockiert: Immerhin 25 Prozent der Befragten nannten sechsstellige Beträge, einer gar 800.000 Dollar.

Die Realität ist davon weit entfernt. Tatsächlich liegt der mittlere Verdienst laut den jüngsten Zahlen bei 52.000 US-Dollar. Und laut der staatlichen Sozialversicherungsverwaltung verdienten im Jahr 2019 die Hälfte der US-Arbeitnehmer netto weniger als 35.000 Dollar. DerSpott ließ nicht auf sich warten. "Abgehoben reicht nicht mal, um diese Wharton Studenten zu beschreiben", ätzte ein Nutzer im Internetforum Reddit.

Zuihrer Verteidigung könnte man einwenden, dass es sich bei den Studierenden meist um junge Menschen handelt, denen es vielleicht an Lebenserfahrung fehlt. Derjenige, der die 800.000 Dollar in die Runde warf, dürfte einer jener Witzbolde sein, die sich immer finden.Die Professorin selbst versuchte, die Wogen wieder zu glätten. Es sei ihr darum gegangen, zu zeigen, wie sich Menschen ganz generell schwertun, den tatsächlichen Unterschied zwischen reich und arm richtig einzuschätzen.

Doch warum ging Strohmingers Tweet im Internet viral? Weil er ein Schlaglicht auf die Verwerfungen in der amerikanischen Gesellschaft wirft. Wharton ist nicht irgendein Campus, es ist nach Harvard die bedeutendste Führungskräftekaderschmiede der Nation.Zu den Absolventen zählen Elon Musk, Tesla-CEO und Liebling der Libertären, Investorenlegende Warren Buffett sowie Donald Trump und Tochter Ivanka.

Dankbare, vermögende Absolventen und Eltern sponsern Eliteunis

Es ist erhellend, sich anzuschauen, wer es auf die Eliteinstitution schafft. Viele verdanken ihre Aufnahme nichtzuletzt der Tatsache, dass bereits ihre Eltern oder Großeltern dort studierten. Es sind sogenannte Legacy-Studenten. 22 Prozent dieser Legacy-Bewerber und -Bewerberinnen werden von Wharton angenommen. Insgesamt akzeptiert Wharton nur neun Prozent all derjenigen,die sich bewerben. Damit liegt für die Legacy-Kandidaten die Wahrscheinlichkeit, aufgenommen zu werden, weit höher als für Bewerber ohne entsprechende Verbindung.

In Yale, einer anderen Eliteinstitution, sieht es nicht viel anders aus. Bei rund 30 Prozent liegtdie Erfolgsquote für Kinder von Yale-Absolventen, während es insgesamt nur sechs Prozent der Bewerber und Bewerberinnen schaffen*. Noch extremer verhält es sich an der Harvard-Universität. Dort lag 2019 die Chance, angenommen zu werden, mit 5,3 Prozent so tief wie nie zuvor.Doch eine Studie (PDF-Link) fandheraus, dass 43 Prozent der weißen Bewerber über Kriterien wie Legacy oder sportliche Leistungen ausgewählt wurden. Oder weil der Dekan ein "besonderes Interesse" an ihrer Aufnahme hatte.

Gemeintist damit offenbar oft ein finanzielles Interesse. Weil die privaten Eliteuniversitäten auf Spenden hoffen. Dankbare – und vor allem vermögende – Absolventen und ehrgeizige Eltern sponsern Bauprojekte und richten Lehrstühle ein. In einer während eines Gerichtsverfahrenszutage gekommenen internen E-Mail im Jahr 2013 bedankt sich etwa der Dekan einer Fakultät bei dem für die Bewerberauswahl zuständigen Amtskollegen, den er als "mein Held" anspricht: "Ich bin einfach begeistert, über die Leute, die Sie ausgewählt haben. X undY sind beides große Gewinne. Y hat bereits für ein Gebäude zugesagt." So berichtete der Harvard Crimson, die Studentenzeitung der Universität.

Eshat sich seitdem nicht entscheidend geändert. Über ein Viertel der aktuellen Erstsemester gab an, aus einem Elternhaus zu stammen, das mehr als 250.000 Dollar an jährlichem Einkommen hat, so eine Erhebung des Crimson. Gehört man zum Kreis der amerikanischenGeldaristokratie, trifft man sich immer wieder. So hat ein erheblicher Teil der Studierenden an diesen exklusiven Hochschulen zuvor eine private Schule besucht. Von Harvards Erstsemestern im Jahr 2014 kamen knapp 40 Prozent von einer Privatschule, so eine Erhebungdes Harvard Crimson.

Die Bevorzugung Privilegierter entlarvt das angebliche Leistungsprinzip

Zu den Pipeline-Institutionen gehören traditionell die Boarding Schools, einst nach britischem Vorbild für die Oberschicht eingerichtet, wo die durchschnittliche Schulgebühr bei 56.000 US-Dollar jährlich liegt. Besonders exklusive Einrichtungen verlangen bis zu90.000 Dollar. Wie sehr die akademischen Inhalte den Hype rechtfertigen, sei dahingestellt. Fest steht: Wer sich schließlich zu den Alumni zählen darf, kann auf ein wertvolles Netz an Kontakten zugreifen.

Kein Wunder, dass Eltern, die über die notwendigen Mittelverfügen, so gut wie alles versuchen, ihren Kindern diesen Vorteil zu verschaffen. Bis hin zu kriminellen Handlungen, wie der Varsity-Blues-Skandal vor knapp drei Jahren an den Tag brachte. Dutzende Eltern, darunter bekannte Hollywoodschauspieler und Finanzmogule,hatten Prüfer und Universitätsangestellte mit Hunderttausenden Dollar bestochen und Trainer dafür bezahlt, ihre Kinder als angebliche Spitzenathleten aufzunehmen.

DieseBevorzugung bereits Privilegierter ist nicht nur unfair, sie ist sozial und politisch hoch problematisch. Denn aus den Reihen der Absolventen rekrutieren sich Managerinnen von Konzernen, Wall-Street-Finanziers, Spitzenpolitikerinnen, Richter und Staatsanwältinnen. Damitwird letztlich das angebliche Leistungsprinzip, auf dem der soziale Friede in den USA beruht, als Märchen entlarvt. So wie Strohmingers Tweet über ihre Studenten ahnen lässt, wie fremd den Privilegierten im Land die Lebenswirklichkeit der meisten US-Amerikanerist.

*Korrekturhinweis 24.1.2022:In einer ersten Version war an dieser Stelle von Harvard-Absolventen die Rede, die Angaben beziehen sich aber auf Kinder von Yale-Absolventen. Wir haben die Passage entsprechend korrigiert. Ähnliches gilt für den Teaser, in dem in einer alten Fassung vom Durchschnittseinkommen die Rede war, tatsächlich wurde nach dem nach dem Einkommen eines "durchschnittlichen Arbeiters" gefragt.

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